Renninis pigmentosa, kurz RP genannt, ist eine erbliche degenerative Netzbauterkrankung. Erste Symptome sind Nachtblindheit, Gesichtsfeldeinschränkung und hohe Blendempfindlichkeit. Diese Krankheit kann zur völligen Erblindung führen. Zur gleichen Krankheitsgruppe gehört die Makula-Degeneration. Im Gegensatz zur RP betrifft sie aber «nur» den Bereich des schärfsten Sehens. Diese Menschen behalten in der Regel das periphere Sehen. Sie können sich gut bewegen und orientieren, sie sind aber stark eingeschränkt im Erkennen von feinen Strukturen, wie Gesichtern, Schriften usw. Unabhängig davon, wie alt jemand ist: eine Sehbehinderung bildet einen tiefen Einschnitt in die Autonomie und das Selbstverständnis eines Menschen. Dinge, die früher selbstverständlich waren, werden schwierig oder gar unmöglich. In einer Gesellschaft, die so stark auf das Visuelle ausgerichtet ist wie die unsere, ist der Verlust der Lesefähigkeit due einschneidende Erfahrung.
Blinde wieder sehend zu machen ist ein alter Traum der Menschheit. Bis vor wenigen Jahren war dies ein unrealisierbarer Traum. Die Forschung macht nun aber Fortschritte, von denen wir vor wenigen Jahren noch nicht zu träumen wagten. Ein Chip, der blinden Menschen das Sehen zurückgibt scheint nicht mehr ganz illusorisch zu sein. Viele Menschen, die von Blindheit durch Netzhautdegenerationen bedroht slnd, setzen grosse Hoffnung auf diese Entwicklung. Unter blinden Menschen dagegen hält sich die Begeisterung in der Regel in Grenzen, und die Beurteilung fällt selten eindeutie aus. Der Alltag eines blinden Menschen ist nicht in erster Linie vom Nichtsehen dominiert. Man stösst sich zwar immer wieder an Hindernissen, die das Nichtsehen verursacht, aber man hat auch Strategien entwickelt, das Leben zu geniessen und die Welt mit den anderen Sinnen zu erleben. In gewissen Beziehungen mag es sogar ein Vorteil sein, nicht zu sehen. Ich denke da vor allem an den Aufbau neuer mitmenschlicher Beziehungen. Das Klassieren durch den ersten visuellen Eindruck fällt weg und öffnet eine neue Möglichkeit der unvoreingenommenen Kommunikation. Umgekehrt wird aber gerade die Kommunikation durch das Nicht-mehr-sehen-Können der feinen Strukturen (Gesichter) stark behindert. Es stellt sich daher die Frage, was ein Chip können muss, damit er für blinde Menschen attraktiv wird. Die spontane Antwort: sehen wie früher mit Farben und Nuancen. Die realistische Antwort: Man sollte mindestens mit einem Hilfsmittel wieder lesen können und ein genügend gnosses Gesichtsfeld haben, um sich bewegen zu können, ohne dass man die Orientierung in grossen Räumen verliert oder immer wieder austösst. Auf den ersten Blick eine bescheidene Auforderung, technisch gesehen wahrscheinlich eine sehr hohe. Physiologisch gesehen entsprechen diese Anforderungen uugefähr einer Sehschärfe von 0.1 bis 0.2 und einem Gesichtsfeld von 20 Grad. Damit wäre man immer noch hochgradig sehbehindert oder wie die Amerikaner sagen «legally blind». Um sich im Leben zurechtzufinden, braucht man auch hier immer noch die Techniken eine blinden Menschen, und auf den weissen Stock dürfte man schon aus Sicherheitsgründen nicht verzichten. Trotzdem, dieser kleine Gewinn von Sehfähigkelt wäre sehr praktisch. Diejenigen Menschen, die langsam erblindet sind, kennen die Phase zwischen Nichtsehen und Sehen. Die meisten erinnern sich daran als eine Zeit der hohen Belastung. Gegenüber einem erblindenden Menschen hätten diejenigen, welche dank eines Chips eine gewisse Sehfähigkeit zurückgewinnen, den Vorteil, die notwendigen Strategien und Techniken vorher eingeübt und praktiziert zu haben. Ihr Gebrauch ist ihm oder ihr zur zweiten Natur geworden.
Als selber an RP erblindete Frau sehe ich diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite würde ich gerne wieder sehen, lesen können und die Gesichter meiner Mitmenschen erkennen. Anderseits habe ich mich mit meiner Blindheit arrangiert und führe ein erfülltes und oft auch glücklichtes Leben. Ich habe mich eingerichtet. Aus jetziger Sicht möchte ich nicht unbedingt zurück ins Leben mit einer sehr schweren Sehbebinderung, wo ich nie genau weiss, was ich sehe und was nicht. Anderseits bin ich aber nicht sicher, was ich entseheiden werde, wenn die Möglichkeit zu diesem Zurück auch wirklich da ist. Vermutlich würde ich mich trotzdem dazu entschliessen, diese Möglichkeit wahrzunehmen. Eine Bedingung ist mir zurzeit sehr klar, ein zweites Mal langsam erblinden möchte ich auf keinnen Fall. Ich habe es einmal gesund überlebt, ob ich die Kraft für ein zweites Mal hätte, bin ich nicht sicher. Trotz dieser gewissen Zurückhaltung verfolge ich diese Forschungsprojekte mit grosser Faszination. Ich bin gespannt, was uns die Zukunft bringen wird. Ich wünsche mir aber, dass diese Projekte genügend finanzielle und technische Mittel sowie die notwendige Zeit erhalten, um Schritt für Schritt dem ambitiösen Ziel näherzukommen. Nur so wird ein Netzbaut-Chip auch wirklich das Leben eines blinden Menschen nachhaltig zum Positiven verändern.
Adresse der Autorin
Christina Fasser, Retinitis-pigmentosaVereinigung Schweitz,
Langstrasse 120, 8004 Zürich, Telefon 0l 291 18 72